Erst die Freiheit, dann die Moral?

Viel Zeit ist vergangen seit meinem letzten Beitrag. Vieles hat sich getan. Die 3. Welle konnte im Westen ohne harten Lockdown zu Ende gehen, und im Sommer hatte man den Eindruck, die Pandemie wäre vorbei. Beides wird zu einem großen Teil daran gelegen haben, dass viele Menschen geimpft werden konnten. Nach all den Einschränkungen haben wir unsere Freiheit zurückbekommen. Zumindest dachten wir das, weil wir in einem Anflug von Optimismus geglaubt haben, dass wir die für Delta notwendige Impfquote von über 80% erreichen würden. Dass von einzelnen Politikern die Pandemie als beendet erklärt wurde, hat in mir schon damals ein mulmiges Gefühl erzeugt. Dieses Gefühl wird aber immer stärker, je mehr sich die 4. Welle aufbaut.

Denn das Freiheitsgefühl hat uns offenbar so beflügelt, dass wir völlig übersehen, was wir gerade anrichten. Wie moralisch verwerflich das in meinen Augen ist. Was ich hier beschreibe, ist kein rein österreichisches Problem. Es betrifft auf jeden Fall die D-A-CH Staaten, und vermutlich auch viele andere. Es wäre daher zu wenig, nur die österreichische Bevölkerung zu kritisieren. (Manchmal habe ich den Eindruck, Deutschland, Österreich und Schweiz schaun immer a bisl was grad der jeweils andere tut und machen dann einen Teil davon nach, meist eher den bequemeren – also Nivellierung nach unten.)

Es wäre auch zu einfach, nur die Bundesregierung zu kritisieren, denn selbst die Oppositionsparteien erheben keinen Einspruch dagegen, was hier gerade passiert (auf die Machenschaften der FPÖ möchte ich gar nicht eingehen, das ist mir ehrlichgesagt zu blöd).

Live and let die

Wir haben zu Beginn der Pandemie die Meinung mancher Gruppen vernommen, dass man die „Alten und Schwachen“ (die der Virus in der damaligen Form in erster Linie gefährdet hatte), doch sterben lassen könne. Ich denke, dass diese Haltung damals noch außerhalb des gesellschaftlichen Konsens lag. Doch, so mein Eindruck, das hat sich geändert.

Überlegen wir uns doch mal was gerade passiert. Was bedeutet eigentlich dieser sogenannte Stufenplan der Regierung, der sich an der Intensivauslastung orientiert?
Er bedeutet, dass wir nicht jetzt handeln, wo „nur“ knapp 300 Menschen auf der Intensivstation liegen, sondern dass wir noch warten, bis 400, 500 gar 600 Menschen dort liegen.
Wir wissen, dass ein Drittel dieser Menschen sterben wird. Wir wissen, dass den Rest eine extrem mühsame Rehabilitationsphase bevorstehen wird. Und wir wissen, dass das Gesundheitspersonal, das jetzt schon mehr als erschöpft ist, noch mehr überlastet wird. Wir wissen auch, dass Operationen in großem Maße verschoben werden, darunter viele, die schon seit Beginn der Pandemie aufgeschoben werden, weil einfach keine Kapazitäten da waren.

Wir nehmen also Hunderte Tote, Schwerkranke und Kolateralschäden durch nicht durchgeführte OPs in Kauf, und zwar wofür? Wofür eigentlich?
Dass wir noch 2 Wochen warten können, bis wir 2g einführen. Da muss ich schon fragen: Ist es uns das Wert?

Wo bleibt der Mut?

Ich weiß, dass PolitikerInnen Rechnungen aufstellen müssen, in denen das Retten von Menschenleben materiellen Kosten gegenübergestellt wird. Ich nehme zur Kenntnis, dass es Überlegungen gab, wieviel ein Lockdown kostet, und ob es das Wert sei, so und so viele Menschenleben zu retten. Ich bin froh, dass ich nicht in der Politik bin und solche Überlegungen anstellen muss. Aber bitte, wir haben jetzt eine völlig andere Situation. Wir haben Hilfsmittel, wie die gar nicht so schlecht akzeptierten FFP2 Masken, wir haben die Impfung, und das Konzept von 2g ist in Theorie und Praxis vorbereitet. Es gibt den grünen Pass. Es geht jetzt nur darum, dass die Politik endlich den Mut aufbringen muss, 2g in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens einzuführen, und möge man es indirekte Impfpflicht nennen.

Dass man im Sommer die Nachtgastronomie ohne 2g geöffnet hat, hab ich schon damals nicht nachvollziehen können, wo völlig klar war, dass Delta im Anmarsch ist. Ich kann gerade noch nachvollziehen, dass man in der Zeit des oö. Wahlkampfes sich nicht getraut hat, Maßnahmen zu setzen. Entschuldigen will ich es nicht, aber nachvollziehen kann ich es. Aber auch das ist mehr als 1 Monat her.

Dass 2g in dieser Situation ethisch vertretbar ist, zu diesem Standpunkt kommt auch die Bioethikkommission in ihrer aktuellen Stellungnahme. Sie warnt eindringlich davor, ÄrztInnen in die Situation zu bringen, dass sie Entscheidungen der harten Triage treffen müssen (wer bekommt eine Behandlung und darf überleben, wer nicht). Sie weist auch darauf hin, was ich schon im Frühjahr geblogged habe, und jetzt hier nochmal mit neuen Daten und Erkenntnissen genau aufzeigen möchte: Dass nicht alle Betten, die im ages Dashboard als „frei“ aufscheinen, auch belegbar sind. Und wenn mans genau nimmt, dass es überhaupt gar keine freien Betten gibt.

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Es gibt keine freien Betten

Ich habe hier den Verlauf der Belegung der Intensivstationen in Oberösterreich eingezeichnet. In dunkelblau die Anzahl der Covid PatientInnen, in hellblau die Anzahl der Non Covid PatientInnen (das sind Notfälle wie Herzinfarkt ect, sowie Betten, die zur Nachsorge von Operationen benötigt werden).

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ICUs: dunkelblau Covid Belag, hellblau Non Covid Belag mit 7-Tages-Schnitt, gelb: 10%, rot: 33% der Gesamtkapazität

Man sieht: Sobald die Anzahl der Covid PatientInnen zunimmt, wird die Non-Covid Versorgung weniger. Das heißt: Verschobene OPs. Hüft-OPs, Krebs-OPs, alles. Natürlich alles in der Reihenfolge der Dringlichkeit. Aber hinter jeder verschobenen OP steckt persönliches Leid. Das wird von der Politik offenbar sowieso in Kauf genommen. Niemand stört es. Kein Widerspruch aus irgendeiner Oppositionspartei, kein Nachfragen von JournalistInnen, nichts. Beim Betrachten des Bildes drängt sich eine Frage auf: Was ist dieses weiße Band in der Mitte? Ja, es sind die „freien Betten“. Es sind genau die freien Betten, die das ages Dashboard als „tagesaktuell frei“ anzeigt. Nur, wie der zeitliche Verlauf zeigt, können diese Betten offenbar nicht belegt werden. Weil offenbar einfach nicht mehr Personal da ist (und man kein Krankenhaus mit 0 freien Betten betreiben kann – und es gibt bekanntlich mehr als nur 1 Krankenhaus pro Bundesland)

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ages dashboard

Der Krisenstab des Landes aber beruhigt: Alles in Butter. „47 Prozent freie Betten“ heißt es da am 29.10.21. Dass nicht alle Betten belegt werden können, und die Anzahl einfach nicht kleiner wird, ist natürlich in allen Bundesländern so. Also: Die freien Betten, die es jetzt gibt, die muss es geben, es wird sie immer geben, und alles was sich verschiebt, ist die NonCovid Versorgung. Mehr dazu in meinem Twitter Thread.

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Meldung auf orf.at vom 29.10.2021

Das geht sich nicht aus

Wir nehmen also, wie bereits gesagt, das Sterben und schwere Erkranken von Hunderten Menschen in Kauf, wir nehmen verschobene Operationen in Kauf, was man bereits als schleichende Triage bezeichnen kann. Denn jeder zusätzliche Covid Fall auf ICU verursacht ca. 2 verschobene OPs. Und zwar nicht erst, wenn die 10% Schwelle überschritten wird, wie man in obigem Bild gut erkennen kann.

Wir nehmen außerdem Tausende LongCovid Fälle in Kauf (dieses Thema wird sowieso völlig vernachlässigt). Aber selbst, wenn wir dann bei 600 Covid ICU PatientInnen „reagieren“, wies der Stufenplan vorsieht, werden es noch viele viele mehr werden, bis die Reaktionen dann auch auf die Infektionszahlen und schließlich auf die Intensivstationen wirken. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sich das ohne harte Triage ausgehen soll. Und, laut zahlreichen ÄrztInnen in OÖ, hat sie bereits letztes Jahr stattgefunden. Puls4 hat dankenswerterweise (als eines der wenigen Medien) darüber berichtet.

Ein großes Fragezeichen für mich ist auch, wie man die Pandemie je wieder unter Kontrolle bringen will? Ein Factsheet der Gesundheit Österreich Gmbh, in Auftrag gegeben vom Gesundheitsministerium, spricht davon, dass bis zu 10.000 tägliche Neuinfektionen „möglich“ sind, bis das Gesundheitssystem überlastet. Das hat man offenbar von Seiten des Ministeriums wissen wollen. Diese Berechnung als (Nicht-)Handlungsgrundlage zu nehmen, ist nicht nur zynisch, weil man damit ganz bewusst Menschen in den Tod bzw. ins LongCovid Leiden schickt, sondern man hat offenbar auch vergessen, den Bremsweg einzukalkulieren. Selbst wenn man es wirklich zu 10.000 Neuinfektionen pro Tag kommen lassen will, müsste man *heute*, am 1.11.2021, eine Vollbremsung einlegen.

Die Pandemie zu kontrollieren war offenbar nie das Ziel. Wissenschaftsleugnende Aussagen wie „Wir müssen davon weg kommen auf die Inzidenz zu schauen“, „Wir müssen auf Eigenverantwortung setzen“ oder „für Geimpfte ist die Pandemie vorbei“, haben sich in die Köpfe der Menschen hineingefressen wie Tiroler Zirbenschnaps.

Wir brauchen sofort eine flächendeckende 2g Regelung. Ich verstehe nicht, welche Interessen dem entgegenstehen. Es muss sofort passieren, heute. Das Zeitfenster schließt sich, bald wird es dafür zu spät sein (wenn es das nicht schon längst ist).

Denn von einem bin ich überzeugt: Gesundheit und Wirtschaft lassen sich nicht gegeneinander ausspielen. Wenn wir es so weit kommen lassen, dass ein Lockdown unausweichlich wird, dann haben nicht nur viele Menschen sinnlos ihr Leben oder ihre Angehörigen oder ihre gesundheitliche Unversehrtheit verloren, sondern dann hat auch die Wirtschaft verloren.

Ich könnte noch Vieles schreiben, ganz besonders über die Wissenschaftsleugnung, die Einzug gehalten hat. Selbst vor ExpertInnen, die in den größten Nachrichtensendungen interviewt werden, hat sie nicht halt gemacht. Aber ich denke für heute habe ich genug gesagt.

An Euch kann ich nur apellieren, lasst euch impfen, falls ihr das noch nicht getan habt, und zwar heute! Und wenn ihr geimpft seid, holt euch, so bald es für euch empfohlen ist, den 3. Stich (bzw ganz besonders bei den „Einmalimpfstoffen“) die Auffrischung. Der Impfschutz lässt nach 6-9 Monaten stark nach, teilweise auch früher. Und es gibt bereits Berichte über Geruchsverlust und Long Covid nach einer Ansteckung trotz Impfung. Die Wissenschaft steht eben nicht still, sie ist immer im Fluss. Und das sind eben die neuesten Erkenntnisse.

Ich danke euch fürs Lesen, und entlasse euch mit einer letzten Grafik, die zeigt, welch großen Anteil Geimpfte schon an den täglichen Neuinfektionen haben (bei den über 60 jährigen übrigens schon 50:50). Auch als Geimpfter kann das Virus weitergegeben werden, denkt bitte also auch wieder an die Maske, und, ja, leider, ans Testen.

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