Ist das Wachstum noch linear oder schon exponentiell?

Warum diese Frage nicht nur ständig falsch beantwortet sondern auch falsch gestellt wird…

Immer wieder wird – selbst vom Gesundheitsminister – behauptet, das Wachstum sei noch nicht exponentiell. Man müsse darauf achten, dass wir „nicht in ein exponentielles Wachstum hineinkippen“. Exponentielles Wachstum wird als mystische Bedrohung dargestellt, die ganz plötzlich über uns hereinbrechen kann, niemand weiß wann, aber wenn dann passiert irgendwas schlimmes.

Das Problem an dieser Formulierung: Das Wachstum ist immer exponentiell, es ändert sich immer nur die Steigerungsrate (oder Zuwachsrate). Das kann man mittlerweile an den Auswertungen des Statistikers Erich Neuwirth bestens erkennen. Es ist eine logarithmische Darstellung, und alles was in einer log-Darstellung eine Gerade ist, ist exponentiell (man erinnere sich an den Mathematik-Unterricht der Oberstufe: wenn man e hoch x hatte, dann schrieb man ein log davor und konnte die Gleichung lösen).

Quelle der Grafik und genaue Abhandlung: Erich Neuwirth

Das Problem an der Formulierung „wir dürfen nicht in ein exponentielles Wachstum kippen“ ist, abgesehen davon dass es falsch ist weil schon längst exponentiell, dass man sich dann vorstellt, man könne zwar so weitermachen wie bisher, aber dürfe halt nicht schlechter werden. Weil man irgendwie meint dass konstante Bedingungen für den Virus zu konstanten Neuinfektionen führen. Also: „wenn wir so weitertun wie bisher, bleibt die Lage stabil”, das ist doch irgendwie der Subtext. Die Wahrheit ist aber, dass konstante Bedingungen nicht zu konstanten täglichen Neuinfektionen sondern zu einer konstanten Steigerungsrate führen. Und das führt halt dann irgendwann zu ganz großen Zahlen. Die Steigerungsrate entscheidet also, wann wir die 5.000 Neuinfektionen erreichen, aber dass wir sie erreichen werden, ist vorgegeben, solange die Steigerungsrate positiv ist.

Hier kann man anhand eines Schiebereglers ausprobieren wie sich eine Veränderung der täglichen Steigerungsrate (aktuell 2.0%) auf die Zahl der Neuinfektionen auswirkt.

Push it down!

% Steigerungsrate..

bei einer Ausgangslage für den 7-Tagesschnitt von ..

ergibt in 30 Tagen einen 7 Tagesschnitt von:

Will man nämlich dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen stabil bleibt, muss die Steigerungsrate exakt 0% sein (da wäre dann R=1).

Will man, dass diese Zahl sinkt, muss die Steigerungsrate negativ sein (oder R<1). Das sind die Abschnitte in der obigen Grafik, in dem die Gerade nach unten zeigt. Immer wenn ein Knick in der Gerade ist, ändert sich die Steigerungsrate. Die Steigerungsraten sind auch eingetragen, allerdings die wöchentlichen, nicht die täglichen.

Man kann sich das auch ganz einfach überlegen. Es kann gar nicht linear sein, sonst wärs keine Pandemie. Lineares Wachstum würde bedeuten, dass wenn 1 Person 2 andere ansteckt, diese beiden Angesteckten dann in der nächsten Iteration in Summe 3 neue Personen anstecken, und diese 3 dann 4 andere Personen und diese 4 dann 5. usw. Also da müssten sich die einzelnen Personen irgendwie ausmachen, wer von ihnen jeweils einen, und welcher von ihnen 2 anstecken darf. Realistischer erscheint, dass wenn 1 Person 2 andere ansteckt, diese 2 dann jeweils wieder 2 anstecken, also 2x2=4. diese 4 stecken dann auch wieder jeweils 2 an, also 4x2. Das Wachstum ist nicht 1-2-3-4-5 sondern 1-2-4-8-16. Das hätten uns die Virologen eigentlich eh schon vor einem Jahr gesagt, und man kann es vermutlich auch unter „Pandemie“ in jedem Lexikon nachlesen, aber viele wollten das nicht glauben, verstehen oder sonst was. Jetzt sehens wir halt leider zusätzlich an den Inzidenzverläufen des vergangenen Jahres.

Dass exponentielles Wachstum irgendwann auch endet, nämlich dann wenn Herdenimmunität in Aussicht ist, das ist eine andere Frage. Da fehlen uns im Moment leider noch ein paar Impfungen, aber irgendwann wird es so weit sein. Bis dahin sollte nicht die Frage sein ob es exponentiell ist, sondern wie wir eine Steigerungsrate < 0 schaffen (also R<1). Oder, wie hoch die Steigerungsrate sein darf, damit wir bis zu einer hoffentlich mit Durchimpfung erreichten Herdenimmunität durchkommen. Dabei sollte aber auch nicht vergessen werden dass wir, wenn wir uns hohe Inzidenzen erlauben, ganz bewusst ein paar Menschenleben opfern und Long-Covid Betroffene erzeugen.

Quelle 7-Tagesschnitt: ages dashboard vom 22.3. Fallzahl absolut in den letzten 7-Tagen dividiert durch 7.
Quelle Steigerungsrate: ages vom 19.03.2021

Die Auslastung der Intensivstationen

In Medienberichten liest man dass die Intensivstationen in Wien bereits voll sind, gleichzeitig zeigt das ages dashboard eine Auslastung für Wien von 50%. Wie passt das zusammen?

Grundsätzlich sind auf Intensivstationen immer ca. 90% der Betten belegt. Sie werden einerseits für akute medizinische Notfälle (Herzinfarkt, Unfälle, ect.) benötigt, andererseits für die Nachversorgung von Patient:innen nach einer Operation.
Da es in Österreich 2.000 Betten gibt, sind also normalerweise ca. 200 frei. Da im Moment 400 Personen alleine mit Covid-19 auf Intensivstationen liegen ist das schon mehr als die Spitäler eigentlich hergeben.

Wie ist es dann möglich dass 400 Personen auf Intensiv liegen, es eigentlich nur 200 freie Betten gibt, aber gleichzeitig das ages dashboard 483 zusätzlich verfügbare Intensivbetten anzeigt?

Da man den Menschen nur schwer weniger Herzinfarkte oder schwere Autounfälle verordnen kann, bekommt man Betten nur frei indem man Operationen verschiebt (für deren Nachbetreuung man ja die Betten brauchen würde). die im dashboard ausgewiesenen 883 Betten beinhalten also schon diese freien Betten, dies eigentlich überhaupt nicht gibt.

Das heißt, wir sind momentan schon in einer Situation in der eine optimale Gesundheitsversorgung wie in normalen Zeiten nicht mehr gegeben ist (weil ja OPs verschoben werden müssen). Ob die Spitäler also jetzt schon überlastet sind, oder erst wenn die 883 voll sind und wirklich Patient:innen aussortiert werden müssen (wer wird aufgenommen und wen lässt man einfach sterben – das wäre dann harte Triage), ja das ist dann vielleicht Ansichtssache. Zu berücksichtigen ist allerdings dass es durch die derzeit 400 von Covid Patient:innen belegten Betten bereits gesundheitliche Kolateralschäden gibt (durch verschobene OPs), und dass hinter dieser Auslastung ja auch Menschen stehen: Einerseits das Personal in den Spitälern das nicht mehr optimal arbeiten kann, andererseits die Patient:innen. Es sind auch viele junge gesunde darunter.

UPDATE: Visuelle Gegenüberstellung von ages dashboard und Einschätzungen der Corona-Kommission hier

Quellen:

https://www.sn.at/panorama/oesterreich/covid-19-intensivmediziner-markstaller-spricht-vom-aufbau-einer-dritten-welle-100777243

https://www.heute.at/s/alles-voll-wien-hat-keine-intensivbetten-mehr-100133415

https://covid19-dashboard.ages.at/dashboard_Hosp.html